In Zeiten des Wandels sucht man nach Stützpunkten mit Hilfe des Forumtheaters in Odessa

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Der gesellschaftliche Umgang mit und die Bewältigung von verschiedenen kriegsbedingten Folgekonflikten in der ukrainischen Gesellschaft stellen gegenwärtig eine große Herausforderung und essentielle Aufgabe für die ukrainische Zivilgesellschaft dar und erfordern immer wieder neue Lösungsansätze. AktivistInnen, die mit Binnenvertriebenen, KriegsteilnehmerInnen und deren Familien arbeiten, erlernten im Rahmen unserer Schulungsreihe „Forumtheater in der Dialog- und Friedensarbeit“ die Methode des Forumtheaters in der Konfliktbearbeitung einzusetzen und erhielten im Rahmen der Schulung die Möglichkeit das neue erworbene Wissen in eigenen Projekten unmittelbar zur Anwendung zu bringen.

So wurde das Kleinprojekt „Stützpunkte im Wandel“ in Odessa unter der Leitung von Natalia Gunkina, einer unserer TeilnehmerInnen, aus dem „St. Paul’s Rehabilitationszentrum“ realisiert. An dem Projekt nahmen 5 EinwohnerInnen der Stadt Odessa, darunter Binnengeflüchtete, Einheimischen, MitarbeiterInnen von Sozialämtern und Ehrenamtliche teil.

Das Kleinprojekt „Stützpunkte im Wandel“ befasst sich mit der Verarbeitung bestehender kriegsbedingter Konflikte, die zwischen diesen sozialen Gruppen entstehen. Die Ursachen für diese Konflikte in der Region Odessa sind vor allem der Mangel an Unterkünften für Geflüchtete und die voreingenommene Haltung mancher SozialarbeiterInnen gegenüber den Binnenvertriebenen, bzw. den Menschen, die in den nicht von der Ukraine kontrollierten Gebieten leben.

Die drei Szenen der Forumtheater-Aufführung, die im Rahmen des Kleinprojektes unter dem Titel: „Integrationskonflikte der Binnengeflüchteten auf dem Weg zum friedlichen Leben“ entstanden sind, basieren auf realen Geschichten und Erfahrungen der Teilnehmenden.

Zu Beginn der kriegerischen Konflikte nahm die Küstenstadt Odessa eine Vielzahl von Binnengeflüchteten auf. Eine Welle der Hilfsbereitschaft und der gegenseitigen Unterstützung erfasste viele Einheimische, die den Kriegsbetroffenen Unterkünfte für geringe oder gar keine Kosten zur Verfügung stellten. Doch mit dem Beginn der Ferienzeiten kamen immer mehr Touristen aus anderen Regionen der Ukraine in die Stadt und die EinwohnerInnen, die besonders von der Unterkunftsvermittlung an Touristen leben, konnten es sich nicht mehr leisten, preiswerte Unterkünfte für die Binnengeflüchteten bereitzustellen. Die sich aus dieser Situation ergebenden Konflikte zeigen die ersten beiden Szenen der Forumtheater-Inszenierung.

In der ersten Szene steht eine Wohnungsvermittlerin vor einer schwierigen Entscheidung: Sie ist gezwungen, zwischen der Hilfe für eine geflüchtete junge Frau mit Kind, die sie ohne Entgelt untergebracht hat, und einem zahlungsfähigen Touristen zu wählen.

Eine ähnliche Situation zeigt die zweite Szene. Die Leiterin eines Pensionates, ist auf Grund der Vielzahl von Touristen verpflichtet die Zimmer, die zuerst von Binnengeflüchteten belegt wurden, an die zahlungsfähige Gäste zu vergeben. Ohne einen Anspruch auf Unterkunft und wenig Geld, müssen die geflüchteten Familien zwangsweise die Möglichkeit in Betracht ziehen, in die von der ukrainischen Regierung nicht kontrollierten Gebiete – und damit ins Kriegsgebiet zurückkehren zu müssen.

Im Mittelpunkt der dritten Szene steht die Geschichte eines alten Ehepaars, in der die Ressentiments und Vorurteile mancher SozialarbeiterInnen gegenüber Menschen gezeigt wird, die in den von der ukrainischen Regierung nicht kontrollierten Gebieten leben. Ausgangspunkt der Geschichte ist dabei die Regelung, dass die RentnerInnen aus diesen Regionen seit Kriegsbeginn in der Ostukraine dazu verpflichtet sind, sich alle drei Monate beim Sozialamt in einem Ort zu melden, der von der ukrainischen Regierung kontrolliert wird. Wer dies nicht einhält, bekommt seine Rente vom ukrainischen Staat nicht ausgezahlt. Die dritte Szene zeigt die häufige Problem-Situation, in der Menschen aus Gründen wie Krankheit, diese Bedingungen nicht erfüllen können und dann mittellos dastehen, wobei sie gleichzeitig einen sehr beschwerlichen, gefährlichen und teuren Weg auf sich genommen haben, um die für sie essentiellen, und von ihnen zuvor in die Rentenkasse eingezahlten Gelder zu erhalten.

In der Forumtheater-Inszenierung des Projektes „Stützpunkte im Wandel “ befindet sich ein älteres Ehepaar in eben dieser Situation, das auf Grund der zusätzlichen Diskriminierung auf Grund ihres Wohnortes am Kontrollpunkt völlig verzweifelt.

An dieser Stelle bricht das Stück ab und der Moderator des Forums, d.h. der gemeinsamen Diskussion und Suche nach Lösungen für den im Stück dargestellten Konflikt, öffnet die Szene für das Publikum. Denn Ziel des Forumtheaters ist die gemeinsame aktive Suche nach Handlungsmöglichkeiten, mit denen der Konflikt friedlich beigelegt werden kann bzw. erst gar nicht entsteht: Während der Aufführung kann Jeder und Jede nach eigenem Ermessen auf die Entwicklung der Handlung Einfluss nehmen, indem sie oder er in eine der dargestellten Rollen schlüpft und eine andere Handlung für diese Rolle in der dargestellten Konfliktsituation anbietet. Auf diese Art und Weise werden im Laufe eines Forums die verschiedenen aus dem Publikum heraus vorgeschlagenen Handlungsmöglichkeiten unmittelbar auf der Bühne auf ihr Konfliktlösungspotential hin geprüft und gemeinsam verbessert.

Die ZuschauerInnen im Saal nahmen an dem Forum aktiv teil und suchten mit großem Engagement gemeinsam nach Lösungen für die dargestellten Konflikte. Vorgeschlagenen Handlungsoptionen in den gezeigten Konfliktsituationen waren beispielsweise: die Möglichkeit, dass die Wohnungsvermittlerin der ersten Szene, den Touristen ihre eigene Wohnung anbietet, während sie selbst bei der geflüchteten Familie in mit einzieht für die Dauer des Aufenthaltes der Touristen, oder die Möglichkeit, dass die Beamte in der dritten Szene mehr Empathie für das ältere Ehepaar aufbringt und diese berät, wie in der Situation weiter verfahren kann.

Die vollständige Inszenierung „Integrationskonflikte der Binnengeflüchteten auf dem Weg zum friedlichen Leben“  können Sie in russischer Sprache auf folgendem Video sehen:

https://youtu.be/EGtCfnKYvs

„Stützpunkte im Wandel“ ist eines von insgesamt sechs Forumtheater-Projekte zur Minderung kriegsbedingter innerukrainischer Konflikte, das im Rahmen unser Schulungsreihe „Forumtheater in der Dialog- und Friedensarbeit“ von uns fachlich begleitet und finanziell unterstützt wurde. Die Initiatoren planen weitere Aufführungen der Inszenierung „Integrationskonflikte der Binnengeflüchteten auf dem Weg zum friedlichen Leben“ in anderen Orten im Gebiet Odessa.