„Wie finden wir eine gemeinsame Sprache?“ heißt das Kleinprojekt, das in Iwano-Frankiwsk stattgefunden hat und auf kriegsbedingte Konflikte zwischen russischsprachigen Binnenvertriebenen und der ukrainischsprachigen örtlichen Bevölkerung reagiert. Mittels gemeinsamer Schulung und öffentlichen Forumtheater-Aufführungen wurde ein Dialograum geschaffen, in dem die in Folge des Krieges in der Ostukraine entstandenen Ressentiments und Vorurteile aufgebrochen und einander vorurteilsfrei begegnet werden konnte.
Das Kleinprojekt „Wie finden wir eine gemeinsame Sprache?“ ist eines der fünf von uns geförderten Forumtheater-Projekte zur Konfliktbearbeitung und wurde von Julia Ostrogliad aus der Allukrainische Assoziation „die UkrainerInnen für Donbass und Krim“ realisiert. Julia Ostrogliad ist Teilnehmerin unserer Schulungsreihe „Forumtheater zur Dialog- und Friedensarbeit“, in deren Rahmen wir das Kleinprojekt finanziell gefördert und fachlich unterstützt haben. Mit ihrem Projekt konnte Julia Ostrogliad das in der Schulung erworbene Wissen unmittelbar konfliktmindernd anwenden. Ziel des Projektes war es, den kriegsbedingten innergesellschaftlichen Konflikt zu bearbeiten, in welchem die Sprachwahl (Russisch oder Ukrainisch) als politische Positionierung gewertet wird und der Sprechende dementsprechend nicht selten Vorurteilen und Diskriminierungen begegnet.
An dem Kleinprojekt nahmen 20 EinwohnerInnen der Stadt Iwano-Frankiwsk teil, darunter zehn russischsprachige TeilnehmerInnen – mehrheitlich Binnengeflüchtete – und zehn ukrainischsprachige Menschen – hauptsächlich OrtsbewohnerInnen.
In einem ersten Schritt führte die Projektleiterin Julia Ostrogliad zwei gesonderte Trainings für die russisch- und ukrainischsprachigen TeilnehmerInnen durch, deren Ergebnisse die Grundlage für zwei Szenen des Forumtheaters bilden. Diese spiegeln vorab die einseitige Sicht der jeweiligen Gruppen auf den kriegsbedingten und an die Sprache rückgebundenen Konflikt wieder. Im zweiten Schritt arbeiteten dann alle 20 TeilnehmerInnen zusammen und vereinten die beiden Szenen in einer Aufführung mit dem Titel „Wie sich Mowa (ukr. ‚Sprache‘) und Jasyk (rus. ‚Sprache‘) gestritten haben“.
Die Premiere dieser Inszenierung fand am 3. August 207 in Iwano-Frankiwsk statt. Als Gäste wurden BewohnerInnen der Stadt eingeladen, die sowohl zu den Binnengeflüchteten gehören, als auch VertreterInnen der Aufnahmegemeinde sind.
Die Handlung spielt am Namenstag von Saschas Vater. Zur Feier erscheint der junge Mann mit seiner Braut Katja, die vor einigen Jahren von der Krim geflohen ist. Das Paar gratuliert dem Vater und schenkt ihm einen Pullover mit russischer Aufschrift. Der Beschenkte ist deswegen so empört, dass er den Pullover nicht annehmen möchte. Doch nicht nur diese Situation stellt einen Konflikt dar: Zugleich fordert der Vater Katja auf, sie solle die ukrainische Sprache lernen. Als die Eltern von Katja, ebenfalls Binnengeflüchtete, auftreten und sich ihrerseits beklagen, dass niemand in Iwano-Frankiwsk die russische Sprache spricht und das Lernen und Verstehen der ukrainischen Sprache zu schwierig sei, eskaliert der Konflikt: Saschas Vater ist überzeugt, dass man in der Ukraine die ukrainische Sprache lernen und sprechen müsse.. Katjas Eltern hingegen sind der Meinung, dass sich die alte Gewohnheit, Russisch zu sprechen, schwer ändern lässt, besonders wenn alle Beteiligten Russisch verstehen und die Sprachwahl nichts mit den politischen Ansichten zu tun hat.
Auf der Feier ist auch die Schwester von Saschas Vaters, Oksana, die mit ihrem Mann, einem gebürtigen Ostukrainer, 20 Jahre im Gebiet Donezk lebte. Oksanas Mann fiel im Krieg in der Ostukraine, weshalb sie zu ihrem Bruder nach Iwano-Frankiwsk zurückkehrte. Auch sie wirft Katja vor, die ukrainische Sprache aus Unlust nicht erlernen zu wollen, und berichtet, dass sie vor 20 Jahren auch in einem neuen Gebiet, die für sie neue, russische, Sprache lernen musste.
Durch gegenseitige Vorwürfe steigert sich die Unterhaltung zum Konflikt. Katja ist machtlos und kann ihre Position selbst nicht verteidigen. Als sich ihre Eltern in die Diskussion einmischen, beginnt sogar eine Schlägerei.
An dieser Stelle bricht das Stück ab und der Moderator des Forums, d.h. der gemeinsamen Diskussion und Suche nach einer Lösung für den im Stück dargestellten Konflikt, öffnet die Szene für das Publikum. Denn Ziel des Forumtheaters ist die gemeinsame aktive Suche nach Handlungsmöglichkeiten, mit denen der Konflikt friedlich beigelegt werden kann bzw. erst gar nicht entsteht: Während der Aufführung kann Jeder und Jede nach eigenem Ermessen auf die Entwicklung der Handlung Einfluss nehmen, indem sie oder er in eine der dargestellten Rollen schlüpft und eine andere Handlung für diese Rolle in der dargestellten Konfliktsituation anbietet. Auf diese Art und Weise werden im Laufe eines Forums die verschiedenen aus dem Publikum heraus vorgeschlagenen Handlungsmöglichkeiten unmittelbar auf der Bühne auf ihr Konfliktlösungspotential hin geprüft und gemeinsam verbessert, bis der Konflikt gelöst ist.
So wurde beispielsweise Sascha, Katjas Bräutigam, zwei Mal auf der Bühne ersetzt, der in beiden Fällen eine aktivere Rolle im Konflikt spielte und als Mediator zwischen den Eltern, Katja und ihrer Familie vermitteln sollte. Zum einen versuchte Sascha seine Braut zu verteidigen, indem er Katjas Persönlichkeit und die Liebe über ihre Sprachwahl stellte. Zum anderen erinnerte er die Anwesenden auch daran, dass sie alle ,unabhängig von der Sprache, UkraininerInnen sind, in einem Land leben und daher miteinander statt gegeneinander – egal in welcher Sprache – reden sollten. Saschas Worte zeigten Wirkung und führte zu einem offenen Gespräch aller Beteiligten. Sie zeigten gegenseitiges Interesse an den Lebenssituationen der anderen, die von Krieg, Flucht und unerwarteter Zuwanderung von Binnengeflüchteten geprägt sind.
Das Publikum im Saal fand in den im Stück präsentierten Konflikten ihre eigenen Erfahrungen wieder, die sie seit Kriegsbeginn machen mussten. Sowohl russischsprachige als auch ukrainischsprachige ZuschauerInnen bestätigten, dass diskriminierende Tendenzen hinsichtlich beider Sprachen existieren und die Sprachgrenze zwischen Russisch und Ukrainisch gezielt zur Trennung und Spaltung von West- und OstukrainerInnen genutzt wird.
Das Kleinprojekt „Wie finden wir eine gemeinsame Sprache?“ zeigte diesen kriegsbedingten an die Sprache rückgebundenen Konflikt und schaffte dank einer feinfühligen Konfliktanalyse mit der Forumtheater-Inszenierung einen offenen Dialograum, in dem das kriegsbedingte stereotype Denken durch individuellen Austausch und das Verständnis für die Ängste und Bedürfnisse des Anderen ersetzt und (Sprach-)Grenzen überwunden wurden.
Die vollständige Forumtheater-Aufführung der Inszenierung „Wie sich Mowa (ukr. ‚Sprache‘) und Jasyk (rus. ‚Sprache‘) gestritten haben“ auf Ukrainisch und Russisch, können Sie in folgendem Video ansehen: