Der historische Kontext ist wichtig, um gesellschaftliche Stereotypen und Vorurteile, die jeder Gesellschaft eigen sind, erklären zu können. So auch in der Ukraine, wo kriegsbedingt Vorurteile und Diskriminierungen zugenommen sowie weitere Eigenschaften hinzugekommen sind, die als Anlass für Diskriminierungen dienen. Ein häufiges Problem sind Vorurteile gegen Binnenvertriebene aus der Ostukraine und Spannungen zwischen diesen und den Aufnahmegemeinden.
Mit dem Ziel, auf die historische Bedingtheit bzw. Motiviertheit von Diskriminierungen aufmerksam zu machen und mittels dieser Aufklärungsarbeit Diskriminierungen entgegenzuwirken, wurde das Kleinprojekt „Spirale der Geschichte“ ins Leben gerufen, im Rahmen dessen der Kurzfilm „Transit Point“ entstand.
Der Kurzfilm greift diese Themen, wie die kriegsbedingt in der Ukraine entstandenen Vorurteile auf und erinnert am Beispiel der Lemken die Zuschauer_innen daran, dass Vorurteile gegen Zugezogene bzw. Vertriebene historische Kontinuität besitzen: Drei Protagonisten erzählen über das Schicksal der Lemken, die 945 aus politischen Gründen aus dem westukrainischen Tatra-Gebirge in das Dorf Peremozhne im Luhansker Gebiet zwangsumgesiedelt wurden. Mit Beginn des militärischen Konfliktes in der Ostukraine 204 und der Bombardierung von Peremozhne waren die Lemken abermals gezwungen, ihre neue Heimat zu verlassen und in die Westukraine zu fliehen. Paradoxerweise kehrten sie also auf Grund des aktuellen Krieges in der Ostukraine in ihre historische Heimat zurück, aus der sie 945 vertrieben wurden, und in der sie jetzt aber ebenso fremd sind bzw. als nicht dazugehörig betrachtet werden, wie damals in Peremozhne im Luhansker Gebiet. Interessanterweise funktionieren Vorurteile gegen Zugezogene oftmals über das Argument, diese „stammten nicht von hier“ und seien daher fremd. Im Falle der Lemken trifft dies nicht zu und trotzdem werden diese genau, wie alle anderen Zugezogenen, als Fremde betrachtet, ganz entgegengesetzt zur Logik des soeben beschriebenen häufigen Vorurteils, dass die Herkunft zum Merkmal für die (Nicht-)Zugehörigkeit macht.
Mit der Darstellung der Geschichte der Lemken führt der Film die Paradoxalität und Irrationalität von Vorurteilen und Diskriminierungen vor Augen und weist zugleich auf deren historische Bedingtheit hin.
Das Kleinprojekt „Spirale der Geschichte“ wurde im Rahmen unserer Schulungsreihe „Handlungsmöglichkeiten gegen konfliktbedingte Diskriminierungen“ finanziell gefördert und fachlich unterstützt. Mittels des Dokumentarfilms „Transit Points“ sowie eines Antidiskriminierungsseminares, initiierten die Leiter_innen des Projektes, Olga Platonova von der NGO „Sumshina Aktivna“ und der Menschenrechtsaktivist Alexei Bida einen Dialog zwischen Binnengeflüchteten und Sozialarbeiter_innen der Stadt Sumy.
Einer von mehreren Anlässen für das Kleinprojekt waren Vorurteile und Spannungen zwischen Binnenvertriebenen und Vertretern der Aufnahmegesellschaft der Stadt Sumy. So stehen Binnengeflüchtete weit häufiger mit Vertretern staatlicher Dienste, wie z.B. den Sozialämtern in Kontakt, und sind von diesen in gewisser Weise abhängig, wie auch von Miterabeiter_innen zivilgesellschaftlicher Organisationen, die in der Ukraine derzeit viele wesentliche, primär eigentlich staatliche Aufgaben wahrnehmen. Die kritisierungswürdige aktuelle Sozialpolitik gemeinsam mit der kriegsbedingt schwierigen ökonomischen Situation in der Ukraine führen hier nicht selten zu Konflikten zwischen den genannten Gruppen und bedingen die Aktualisierung von Stereotypen und die Herausbildung von Diskriminierungen.
Das bereits erwähnte Antidiskriminierungsseminar fand vom 2. bis 22. Juli unter Leitung der von uns ausgebildeten Trainerin Olga Platonova statt. Teilgenommen haben 4 Personen, darunter: Binnenvertriebene, zivilgesellschaftliche Aktivisten, Psycholog_innen, Angestellte des Arbeitsamtes und Sozialarbeiter_innen der Stadt Sumy – allesamt Vertreter_innen und Angehörige derjenigen gesellschaftlichen Gruppen, die infolge des Krieges in der Ostukraine häufiger in Konflikt geraten. Die Teilnehmer_innen sprachen über die aktuellen Diskriminierungen und Fremdenfeindlichkeit und analysierten den Zusammenhang zwischen diesen Phänomen und dem historischen Gedächtnis der ukrainischen Gesellschaft.
Zum selben Zweck der Aufklärungs- und Antidiskriminierungsarbeit wurde der Kurzfilm „Transit Point“ gedreht, zu dem ebenfalls eine pädagogische Anleitung verfasst wurde, wie mit diesem Film zur Ausbildung eines antidiskriminatorischen Denkens gearbeitet werden kann. „Transit Point“ wurde am . August zum ersten Mal öffentlich auf dem „Bildungsfestival für Menschenrechte 207“ in Tschernigow gezeigt. Besucher des Festivals waren zum größten Teil Vertreter_innen der Zivilgesellschaft aus dem Bereich der Menschenrechtsarbeit, die derzeit insbesondere mit dem Rechtsschutz der vom Krieg in der Ostukraine betroffenen Menschen befasst sind.
Die Wirksamkeit des Filmes wurde von den anwesenden zivilgesellschaftlichen Aktivist_innen als hoch eingeschätzt, darüber hinaus äußerten sie auch den Wunsch, den Film in ihrer zukünftigen Antidiskriminierungsarbeit zu nutzen. Mögliche Einsatzgebiete für „Transit Point“ sind zum Beispiel die Aufnahme des Kurzfilms in die Programme von Filmclubs der Menschenrechtsarbeit, diversen Bildungsfestivals oder Seminaren. Außerdem wurde vorgeschlagen, den Film in Schulklassen zu zeigen, und es wurde der Wunsch geäußert, diesen Mediaunterricht als fakultativ in das Schulprogramm aufzunehmen.
Die Onlineversion des Kurzfilms, sowie download-Link zur pädagogische Anleitung finden Sie hier